Anna Ananieva / Rolf Haaser: Zu Rilkes erstem Geburtstag in Muzot. Ein unbekannter Brief an Wilhelm Fließ, in: Blätter der Rilke-Gesellschaft 35 (2020), S. 204-212.

Der reiche epistolarische Nachlass Rainer Maria Rilkes, als Bestandteil eines Briefwerks, das sich nur schätzungsweise beziffern lässt, erlaubt immer wieder überraschende Einsichten und Beobachtungen, und zwar sowohl in Hinblick auf literarische als auch biografische Zusammenhänge (geschätzt auf ca. 10.000 Briefe, vgl. Joachim W. Storck: „Briefwerk“. In: Rilke-Handbuch: Leben, Werk, Wirkung. Hg. von Manfred Engel, Dorothea Lauterbach. Stuttgart 2004, S. 498–505). Zu den Freuden der Beschäftigung mit Rilkes Korrespondenz gehören auch Entdeckungen neuer, bis dahin der Forschung nicht bekannter Dokumente, wie im Fall eines der frühesten Briefe aus Muzot, der in dem aktuellen Band der Blätter der Rilke-Gesellschaft erstmals vorgestellt und in der Transkription veröffentlicht wird (Bd. 35, 2020, S. 204-212).

Es handelt sich um ein Schreiben, das Rilke aus seinem kurz zuvor eingerichteten Quartier in der Schweiz nach Berlin gerichtet hatte, um seinen seit einigen Jahren unterbrochenen Kontakt mit dem Arzt Wilhelm Fließ wieder anzuknüpfen. Dieses Dokument – am 46. Geburtstag Rilkes verfasst – zeichnet sich wie die meisten brieflichen Äußerungen des Autors durch eine doppelte – d.h. eine kommunikative und eine literarische – Funktion aus. Der Brief schließt eine Lücke in dem überlieferten Kommunikationsfluss, insofern nun ein Vorgängerschreiben zu dem bekannten Brief Rilkes an Fließ vom 15. Dezember 1921 vorliegt, der in der ersten publizierten Sammlung der Briefe aus Muzot unter Nr. 13 durch Ruth Sieber-Rilke und Carl Sieber veröffentlicht worden ist (Leipzig 1935, S. 65–67). Die in den beiden Briefen zur Sprache gebrachten Gegenstände fügen sich in den existenziellen Themenkreis ein, der Rilke im Winter 1921 intensiv beschäftigte und von ihm als „Konflikt zwischen Leben und Arbeit“ problematisiert wurde.

Zwei Aspekte fließen in diesen brieflichen Äußerungen aus Muzot mit besonderer Eindringlichkeit zusammen. Erstens, die Sorge um Baladine Klossowska (1886–1969), der Lebensgefährtin Rilkes in seinen letzten Lebensjahren. Zweitens, Rilkes Beschäftigung mit sich selbst: seine Aufmerksamkeit gegenüber existierenden wissenschaftlichen Diskursen über die Psychologie und Physiologie des Lebens, und insbesondere der Periodizität der Lebenszyklen, die – in dem ebenso esoterischen wie exzeptionellen Werk von Wilhelm Fließ (1858–1928) – in Bezug auf die Kreativität des künstlerischen Schaffens erörtert werden.

Anders als das literarische Ergebnis des ersten Winters auf dem Château de Muzot, nämlich, die vollendeten Duineser Elegien, die in dem Rampenlicht der Rilke-Forschung stehen, befinden sich beide Personen, die für den hier vorgestellten Brief von unübersehbarer Relevanz sind, weitgehend im Schatten der Aufmerksamkeit. Die Ausführungen des Beitrages, in dem Rilkes Brief aus Muzot vom 4. Dezember 1921 und der Fundort des Schreibens vorgestellt werden, fokussieren sich daher auf Baladine Klossowska und Wilhelm Fließ.